Zum Wunderkind trainiert – so steht es in einigen Zeitungsberichten über Jutta Hempel aus Flensburg. Ich wurde als „Wunderkind“ angesehen, da ich im Alter von drei Jahren mit dem Schachspielen angefangen habe. Es folgten in ungewöhnlich jungen Jahren Schauturniere gegen zehn oder zwölf Gegner im Simultanschach, öffentliche Schach-Auftritte, Blindschach spielen etc. Blitzmeisterschaften, Stadtmeisterschaften, Landesmeisterschaften, jeden Tag Training im Schach:
es war für mich auch eine anstrengende Zeit.
Mein Vater (Hermann Hempel) war der Auslöser dieser Karriere: er war leidenschaftlicher Schachspieler und hatte die Begabung seiner kleinen Tochter erkannt. Wie so oft wurde ein nicht gelebter Traum eines Elternteils über das Kind ausgelebt. Und was wir Schachspieler ja wissen: Schachspielen ist ein richtig anstrengender Sport, wenn man es ernsthaft betreibt.
Dazu gehört meiner Meinung nach eine Begabung, ein Talent – gewiss – aber auch hartes und tägliches Training im „Denken“: Eröffnungen, Gambits, Endspiele, Kombinationen – die Schachtheorie.
Der Perspektive und Erinnerungen eines Kindes auf die damalige Zeit ist für „Erwachsene“ wohl schwer nachvollziehbar – vielleicht auch lustig. Meine Erinnerungen beziehen sich auf „viele ältere Männer, die rauchten und stundenlang an Schachbrettern saßen und sehr ernste Minen hatten“; an Schachereignisse, wo mich die neben dem Brett liegende Schokolade (Schachschauspiel in Glücksburg) mehr interessierte als die Partie an sich; an „nervige“ Reporter und für mich gefühlt „peinliche“ öffentliche Auftritte; an Hochbegabtentests, die ich als kleines Kind als (sorry) albern empfand – dazu kam Unmut über wenig verbleibende Zeit für Spiel, Sport und Freunde, da das Training immer Vorrang hatte. Es gab schöne und auch weniger schöne Ereignisse – gespeichert habe ich vor allem die Erinnerung an ein enormes Denkvermögen für das Schachspiel.
Das Faszinierende am Schachspiel ist genau das: es gibt keinen Faktor Glück wie bei allen anderen Spielen, es kommt nur auf das Denkvermögen an. Dann entsteht für mich der Flow-Effekt: das Vergessen des Rundherum, das Eintauchen in die Denkwelt Schachspiel, das Gefühl von „im Spiel total zu versinken.“ Und genau das ist der Grund dafür, dass ich mich mit 19 Jahren entschlossen habe, kein Schach mehr zu spielen. Ich glaube, ich bin eine „suchtgefährdete“ Schach-Spielerin. Wenn ich Schach spiele, dann gnadenlos ernsthaft und mit den unbedingten Willen, das Spiel zu gewinnen. Mit einem Gefühl in mir von fast „außerhalb der realen Welt zu sein“ und im Spiel fast ALLES zu vergessen, sei es sogar essen oder trinken. Über einen Zug nachzudenken – gefühlt 10 Minuten – um dann überraschenderweise festzustellen (auf der Schachuhr), dass tatsächlich eine volle Stunde Zeit vergangen ist. Die anderen Gründe für „keine Zeit mehr“ fürs Schachspielen waren dann Freund, Sport und andere Hobbies sowie Berufsausbildung und später Studium.
Lange Zeit habe ich als Jutta Nissen verheimlicht, dass ich mal die „Jutta Hempel“ war. Jürgen Nickel vom Flensburger Schachklub von 1876 hat mich vor einem Jahr „aufgespürt“ und wir hatten ein nettes Gespräch. Seitdem habe ich viel nachgedacht und das ist auch der Grund für diese Zeilen. Vielleicht lockt mich irgendwann auch mal wieder das Schachspiel – aber dann bitte nur in einem normalen Maß.
Trotz meiner kritischen Zeilen plädiere ich dafür, schon Kindern das Schachspiel nahe zu bringen!
Das Denkvermögen wird geschult und trainiert wie in keinem anderen Sport. Analytisch denken und kombinieren zu können ist eine wichtige Fähigkeit und bringt einen großen Nutzen. Und in eine Partie oder eine Arbeitsaufgabe „versinken“ zu können, den Flow-Effekt zu erlangen, ist auch ein großes gefühltes Glück.
Ich wünsche allen Schachspielern gute Partien!
Jutta Hempel (jetzt Nissen-Rix)